Zusatzpreis:
Wohnhaus mit Wänden aus Polycarbonat

Extrem schmale Grundstücke sind preiswert, aber kaum bebaubar. Dass dem Architekten Thomas Sixt Finckh in Esslingen trotzdem ein so kompaktes wie grosszügiges Familienhaus gelang, liegt an dünnen Aussenwänden aus Polycarbonat. Das gelungene Experiment zeichneten wir mit einem Zusatzpreis aus.
Polycarbonat
ist allgegenwärtig. Man setzt sich den Kunststoff auf den Kopf oder auf die Nase, hantiert täglich damit und nimmt ihn zuweilen sogar in den Mund. Schutzhelme, Brillengläser, Campinggeschirr, CDs
und DVDs: Polycarbonat (PC) kommt bevorzugt da zum Einsatz, wo ein hartes, schlag- und säure-festes, steifes, lichtdurchlässiges Material verlangt ist. Im Bauwesen begegnet es einem seit langem
bei Gewächshäusern, immer öfter präsentieren sich Werks- und Lagerhallen mit weiss-opaken oder eingefärbten Fassaden aus PC Lichtbauelementen.
Aber ein Wohnhaus mit dünnen, durchscheinenden Plastikwänden? Wo gibt’s denn so was! Der Architekt Thomas Sixt Finckh, seine Frau Kirstin und ihre Kinder Bo, 16, und Fee, 12, haben es gewagt –
und betrachten ihr im Januar 2012 bezogenes Familiendomizil als Gewinn fürs Leben.
"Jahrelang hatten wir rund um Stuttgart vergeblich nach einem bezahlbaren Bauplatz gesucht", erzählt der Planer, der gemeinsam mit seinem Vater und seinem Bruder das Stuttgarter Büro Finckh
Architekten betreibt. Eines Abends entdeckte man aber ein "Wahnsinnsangebot" im Internet: ein Grundstück in Esslingen, hoch über der Stadt inmitten einer ruhigen Siedlung am Südhang gelegen und
unglaublich günstig. Nur einen Haken hatte die Sache. Die angepriesene Parzelle entpuppte sich als eine nur 9,70 Meter breite, dazu noch äusserst steile Schneise zwischen zwei Wohn-häusern, doch
der Preis und die Aussicht gaben schliesslich den Ausschlag zum Kauf.
Aber was anfangen mit dem Schlauch? Nach Abzug der vorgeschriebenen Mindestabstände zu den Nachbargrundstücken blieben lediglich 4,70 Meter Breite fürs Haus übrig. Dicke, den Innenraum einengende
Mauern verboten sich also. Doch nicht nur deshalb entschied sich der Architekt für die Sechs-Zentimeter-Lösung: "Diese Polycarbonat-platten haben einen Wärmedämmwert wie ein gutes
Dreischeibenglas, halten unter Garantie mindestens 25 Jahre und bringen viel Tageslicht ins Innere.“
Spiel der Formen im Licht
Die
transluzenten Wände machten den kostspieligen Einbau von Fenstern an den Hausflanken überflüssig. Dafür öffnen sich beide Stirnseiten mit raumhohen Glasflächen komplett zur Strasse nach Süden und
zum kleinen Garten nach Norden. Zwischen seinen elefantösen Nachbarn wirkt das schlanke Bauwerk wie eine Gazelle. Beim Anblick des grazilen Gehäuses fragt man sich unwillkürlich, was ihm wohl
Halt geben mag. Auf der Aussenhaut jedenfalls zeichnet sich kein Skelett ab.
Der Haupteingang findet sich an der östlichen Giebelwand auf Höhe des ersten Obergeschosses. Über eine Freitreppe aus Gitterrosten geht es, vorbei an der vermieteten Einliegerwohnung im Parterre,
die Böschung hinauf. Drinnen empfängt den Besucher ein tagheller Eingangsflur, der sich von PC-Wand zu PC-Wand über die gesamte Gebäudebreite erstreckt. Hier wird auch offenbar, was das Haus im
Innersten zusammenhält: ein paar tragende Wände aus Stahlbeton, "roh belassen, wie er aus der Schalung kam".

Architekten: Finckh Architekten, Im unteren
Kienle 30, 70184 Stuttgart, Tel. 0711-2237651, www.finckharchitekten.de
Bauzeit: Februar 2011 bis Januar 2012
Wohnfläche: 147 m², Nutzfläche: 35 m²
Grundstücksgrösse: 456 m²
Bauweise: Beton-Skelettkonstruktion
Fassade: transluzente, hochdämmende Polycarbonatplatten, 6 cm (Giebelfassaden); Sonnenschutzverglasung
(Trauffassaden)
Dach: Satteldach, Sichtbeton mit integrierter Photovoltaikanlage
Raumhöhe: 2,40 m
Decken/Wände: Sichtbeton, Polycarbonatplatten
Fussboden: Sichtbeton-Estrich, imprägniert, mit Fussbodenheizung
Energiekonzept: Solewasser-Wärmepumpe mit zwei
Vertikal-Kollektoren à 75 m
Jahresheizwärmebedarf (Qh): 39,1 kWh/m²a
Jahresprimärenergiebedarf (Qp): 15,4 kWh/m²a
Spez.Transmissionswärmeverlust (ht-Wert): <0,34 W/m²K
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